Mit meinem Vater erlebt
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cipher
Gelöschter Benutzer
Mit meinem Vater erlebt
von cipher am 22.05.2014 14:24Mein leiblicher Vater war ein vom Krieg gezeichneter Mann. In jungen Jahren wurde er zur Armee eingezogen, wurde rasch an die Ostfront versetzt und musste dort - erst im Graben und dann im Lager - Fürchterliches erleben. Manches vermisste ich an ihm. Und doch hat er mir das Bild eines Vaters vermittelt, wie ich es eindrücklicher kaum hätte erleben können.
Mein Vater
Eines Tages, es muss so in der Mitte der sechziger Jahre gewesen sein, fuhren ein Schulkamerad und ich mit dem Fahrrad von der Schule nach Hause. Es war später Herbst und kalt, windig und ungemütlich. Tagelang hatte es heftig geregnet und in der ganzen Gegend waren Felder überflutet und die Entwässerungsgräben bis zum Rand gefüllt mit braunem, schmutzigen Wasser. Längs der kleinen Straße, auf der wir heimwärts strebten, verlief ein ebenfalls wassergefüllter Graben. An einer Stelle wurde das Wasser durch ein Rohr unter der Straße hindurch in einen größeren Graben geleitet.
Mein Kamerad und ich bremsten unsere Fahrräder und liefen zu der Stelle, an der der Verlauf des Wassers unter die Straße führte. Nachdem wir dem glucksenden und blubbernden Fließ eine Weile zugesehen hatten, kam uns eine Idee. Von einem Busch in der Nähe brachen wir Zweige und Äste und rammten sie dicht an dicht vor das Abflussrohr in den weichen, lehmigen Grund. Ein paar Steine, ein herrenloses Brett und weitere dünnere Zweige vervollständigten das Stauwehr zügig. Interessiert beobachteten wir, wie der Wasserspiegel vor dem Straßendurchlauf anstieg. Ein richtiges Stauwehr hatten wir gebaut und das abfließende Regenwasser begann, einen Teich zu bilden. Als wir uns aufrichteten, erkannten wir zu unserem Entsetzen, dass das Wasser um uns herum die Straße erobert hatte. Eine Seite der Fahrbahn war bereits mit Wasser bedeckt.
Wir waren uns einig: Der Damm musste unverzüglich eingerissen werden.
Doch das Vorhaben war nicht einfach zu bewerkstelligen. Der Wasserdruck auf unsere primitive Sperre war so hoch geworden, dass wir keine Äste mehr herausziehen konnten. Außerdem standen wir hier schon bis über die Knöchel im Wasser.
Meinem Kameraden war das zu dumm. Er nahm sein Rad, schwang sich hinauf und radelte, wie ein Besessener in die Pedale tretend, davon.
Da stand ich nun. Allein war meine Chance noch geringer, den angerichteten Schaden zu beheben. So setzte auch ich mich aufs Rad und strampelte aus Leibeskräften, um nach Hause zu gelangen. „Vater hilft dir", hämmerte es in meinem Kopf, „Vater kann Dir helfen."
Als ich mit rasendem Puls und fliegendem Atem zu Hause angekommen war, fand ich glücklicherweise meinen Vater auch sofort und berichtete ihm stockend von unserem Heldenstück. Er sah mich ernst und prüfend an, dann nahm er seinen Autoschlüssel, forderte mich mit einer Kopfbewegung auf, einzusteigen und steuerte unser Goggomobil zum „Tatort".
Inzwischen bedeckte das Wasser fast die ganze Straßenbreite. Zwei Autos, die wir sahen, schlichen nur in Schrittgeschwindigkeit durch die Fluten. Mein Vater schätzte die Situation kurz ein, stieg zu unserer prächtigen Wassersperre hinab, und hatte mit einigen wenigen kräftigen Rucken das Hindernis beseitigt. Als das Wasser nun wieder mit voller Kraft durch die Unterführung schoss, wurde er von Kopf bis Fuß mit lehmigem Wasser bespritzt. Er stieg aus dem Graben heraus und sah mich an. Erst jetzt bemerkte ich richtig, dass ich schon eine Weile vor Angst geweint hatte. Jetzt fiel mich ein Zittern an, als die Angst sich legte und ich begann, erneut zu schluchzen. Lehmbespritzt und nass, wie mein Vater war, nahm er mich hoch, drückte mich an seine Brust und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Nach einigen Augenblicken setzte er mich ab und nahm mich an der Hand.
Miteinander gingen wir zum Auto zurück und fuhren heim.
Nie mehr - nicht mit einem einzigen Wort - sprach mein Vater mich auf dieses Erlebnis an. Es blieb verborgen in seinem und meinem Herzen, und wenn ich heute daran zurückdenke, steigt mir zuweilen ein Kloß in den Hals.
Henoch
Gelöschter Benutzer
Re: Mit meinem Vater erlebt
von Henoch am 22.05.2014 15:14Hallo cipher,
ja, so wie Dein Vater gehandelt hat, handelt unser Vater im Himmel. Wenn wir nur zu ihm kommen, dann greift er ein und holt uns an sein Vaterherz.
Danke für den wunderbaren Beitrag.
Henoch
song-of-joy
Gelöschter Benutzer
Re: Mit meinem Vater erlebt
von song-of-joy am 22.05.2014 18:20Ja CIPHER,eine wunderschöne Geschichte!!!!Das Verhältnis Vater-Sohn ist ja bisweilen oder öfter ein eher kritisches,
aber auch mir ist mein Vater(der übrigens im Weltkrieg auch nach Russland geschickt wurde) in seinen letzten Lebensjahren- nach mehreren Schlaganfällen
und Demenz im Pflegeheim- so nahe gekommen wie nie zuvor!!!Schön,wenn man so etwas erleben darf!!!Segen für Dich,Petrus!!!!