Neulich an der Telefonhotline
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cipher
Gelöschter Benutzer
Neulich an der Telefonhotline
von cipher am 10.09.2014 15:56Nachfolgende Geschichte hat sich im Frühjahr 2001 tatsächlich so ereignet, es wurde nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. Nur die wörtliche Rede, die habe ich nach bester Erinnerung nacherzählt...
Ich arbeite bei einer telefonischen "Hotline" oder auch "helpdesk", wie man es heute fach- und sachgerecht ausdrückt. Hier geht es darum, anrufenden Kunden zu helfen, mit ihren Geräten zurecht zu kommen. Diese Geräte sind kleine Computer. Mit denen können die Kunden Bestellungen und Inventuren durchführen, Kassenstände an die Zentrale senden, andere nützliche Dinge tun und jede Menge Fehler machen. Diese kleinen Computer sind allerdings manchmal auch sehr sehr gemein oder wehleidig. Entweder sie halten einen Fall von einem Dreimeterregal nicht aus, oder sie nehmen leichten Schaden bei einem Wurf an die Wand des Kühlhauses, oder ungefähr eine Million weiterer Gründe läßt diese kleinen Computer manchmal einfach streiken. Dann ruft der Kunde bei meinem Kollegen und mir an. Das Verhältnis ist allerdings etwas ungleich - wir zwei Männeken stehen der geballten Macht von über 2300 Kunden gegenüber. Mein Kollege und ich sind inzwischen in Psychologie, christlicher Seelsorge und Telefonakquisition bestens geschult, haben jeder auch ein Jahr Praktium in der Telefonseelsorge absolviert, und stehen unserem Arbeitgeber somit als hochqualifizierte Telefonhotlinemitarbeiter zur Verfügung.
Eines Mittwochmorgens - der Kollege telefoniert gerade - brüllt mein Telefon los. So laut, wie sonst nie, und ich erschrecke. Doch geschult, wie ich ja bin, unterdrücke ich meinen Fluchtreflex und hebe den Hörer von der Gabel. "MDE-Service, guten Morgen. Wie kann ich ihnen helfen?"
Auf der anderen Seite rumort irgendwas. Ein Knall läßt mir schier das Trommelfell platzen. Dann tönt ein Krächzen an mein Ohr: "Challo, werrist dort. Chabe ich schon keine Nerven mehr. Challo, werrist denn dort!" "MDE-Service hier. Guten Morgen" flöte ich besonders höflich, denn ich ahne: Das wird anstrengend. "Wie kann ich ihnen helfen?" "Chelfen? Machen mich diese verruckte Gerrät kirre. Funktionierren nicht seit schicken mir. Schicken Schrott. Gerät tauckt nix. Bringen mir sofort neues Gerrätt." "Sagen sie mir doch bitte ihren Namen und ihre Kundennummer..." "Nix Kundennuummerr, brauch ich sofort neues Gerrätt. Kann nix bestellen, chabbe ich schon keine Nerven mehr..." "Ich verstehe sie. Aber um ihnen helfen zu können, brauche ich zuerst ihre Kundennummer bitte." "...Immer Kundennummer, Belleggnummer, immer Nummer, Nummer - brauche ich Helfe jetzt und sofort - sie nix kriegen Nummer." "Wenn ich ihre Kundennummer nicht bekomme, kann ich doch nicht wissen, an wen ich das neue Gerät schicken soll." Drüben denkt's. Irgendwas gluckert mir ins Ohr. Dann: "Chierr sie hast Nummer..." Die vermutlich einer Frau zugehörigen Stimme krächzt mir die sechsstellige Kundennummer in den Gehörgang. Ich nehme einen neuen Anlauf:
"So, und nun sagen sie mir doch bitte, was an ihrem MDE-Gerät nicht funktioniert." "Wie - nikt funkktionnierrt? Sagge ich doch, dass nixx geht. Wozu sagge ich? Schicke neue Gerätt. Alte Schrott. Chabbe ich schon keine Nerven mehr..." "Bitte - läßt sich das Gerät nicht einschalten?" "Läßt sich einschalten. Piept auch. Aber keine Taste sonst kann drücken, nur piep und keine Zahl, keine rote Licht - Schrott." "Da kann ich ihnen aber helfen. Ich sage ihnen, wie sie das Gerät zurücksetzen, dann wird es wieder funktionieren." "Aha - was ist 'zurücksetzen'?" "Das bedeutet so etwas wie ein Kaltstart des Gerätes. Danach ... " "Was für eine Unsinn mir erzählen? Gerrätt nix kallt. Chabe immer in Büro, Büro gutt warrm."
Ich verknote unterm Schreibtisch meine Beine, zwei Bleistifte liegen zu groben Spänen zermahlen auf meiner Schreibtischunterlage. Mein Kollege sieht mich mit fragenden Augen an. Sein Telefongespräch ist erledigt.
"Drücken sie doch bitte folgende Tasten GLEICHZEITIG an ihrem MDE-Gerät. Die Enter-Taste, die Ziffer zwei und die ..." "Enter tut sich nix. Nurr pieps. Schicke neues Gerrätt. Dieses Schrott.." "Nein nein, so hören sie doch, ich erkläre es ihnen noch einmal: Drücken sie GLEICHZEITIG die Enter-taste, die Ziffer zwei und die Ziffer vier. Dann wird das Display ausgehen und sie..." "Gerät hate gepiept und jetzt aus. Habbe noch garrnix gedrickt. Taste Enter und geht nicht." "Dann schalten sie das Gerät bitte wieder ein" "Chabbe eingeschaltet. Wiedder gleiche Schrott. Keine Taste druckt, alles piept chabbe ich schon keine nerven mehr!"
Ich auch nicht mehr. "Bitte - aus- und wieder einschalten und dann noch einmal..." "Wie jetzt? Erst saggen Enter und Pippappo, dann Gerätt aus, jetzt saggen ein aus - was fürreine Schrott saggen sie mir. Brauch ich neue Gerrätt. Werfe ich altes geggen Wand, dann richtig kaputt..."
Stille im Hörer. Sie hat aufgelegt. Erlöst lege ich behutsam ebenfalls den Hörer auf. Mir ist kochendheiß. Meine Verdauung rumort, mein Blick ist verschwommen. Mein Blutzucker muß astronomische Werte erreicht haben. Ich bin des Rest dieses Tages ziemlich still. Würe ich ahnen, daß dieses Telefonat nur des Dramas erster Teil war.
Donnerstag. Heute ist tranditionell "der große Bestelltag". An Donnerstagen geben die Einzelhändler mittels ihrer MDE-Geräte ihre Wochenbestellungen auf. Je nach Größe des Marktes ist das ein kleiner Rollbehälter, manchmal eine ganze LKW-Ladung. Um zehn Uhr wird fakturiert, dann sind alle Bestellungen im Topf. Alle. Außer einer...
Um 10:20 klingelt mein Telefon. "MDE-Service, guten Morgen. Wie kann ich ihnen helfen"? "Schicken soforrt neues Gerät. Chabbe ich gesagt dass Schrott. Heute ich nixx bestellen wegen Schrott. Wer zahlen für meine Verlust? Chabbe ich schon keine Nerven mehr!" Auweiea, das riecht nach Ärger. Ich versuche zu dämpfen. "Bitte - jetzt eines nach dem Anderen. Was genau funktioniert an ihrem Gerät nicht?" "Chabbhe ich gesaggt. Nix gehen an Drecksgerät. Kommen verruckte Zeichen auf Anzeige, Gerät nur Pieps dann tot." "Welche Zeichen kommen auf der Anzeige." "Woher ich wissen. Nixu lesen. Wirres Zeug. Nur kurz, dann weg." "Achten Sie doch bitte einmal genau auf die Anzeige, wenn sie jetzt..." "Nixx merr achten. Bringen sofort andere Gerrätt. Sonst kommen Anwalt. Chabbe ich schon keine Nerven mehr."
Na, nu' is Ende. "Aber wenn sie mir helfen, kann ich ihr MDE-Gerät wieder zum Funktionieren bringen. Das dauert nur drei Minuten, dann geht das Gerät wieder." "Gestern auch gesaggt und was iss? Nixx is. Bringen neue Gerrätt Basta."
Es knackt - Hörer aufgelegt. Mein Kollege feixt mich an: "Soll ich raten, was Du vor hast? Du fährst hin und bringst ihr ein Gerät." Ich nicke mißmutig, packe zwei nagelneue MDE-Geräte, zwei fabrikneue Akkus, Helm und kugelsichere Weste in, hole bei der Sekretärin den Autoschlüssel und fahre los. Die Kundin hat ihre große Bäckerei östlich von Stuttgart. Für mich etwa eine Stunde Fahrt.
Nach einigem Suchen finde ich die Bäckerei. Auf das Teuerste eingerichtet. Marmorne Wandverkleidung, marmorne Theke, blitzender Chromstahl, kristallene Lampen - und dahinter eine grell geschminkte Blondine mit geschürzten Lippen inmitten fast leerer Tableaus. Ich frage nach der Chefin. Die Blondine weist mich mit unverkennbar russischem Akzent "nach hinten".
Ich trete ins Büro. Ein krasser Gegensatz zum Laden. Düster-verqualmt, trübe Lampe, uralter Schreibtisch, schmuddeliger Eßtisch, ein paar klapperige Hozstühle. Zwischen all dem eine Person vermutlich weiblichen Geschlechts, krause dunkle Haare, hochrotes Gesicht, kaum größer als einsfuffzich, Knubbelnase, wäßrige Augen.
Ich reiche ihr die Hand. "Guten Tag. Ich komme vom MDE-Service. Sie haben uns ein Gerät als defekt gemeldet. Ich bin gekommen, um es mir einmal anzusehen." Ihr glasiger Blick gleitet erst einmal ins Leere. Als ich meinen Blick noch einmal durch den Raum sende, fallen mir mehrere Flaschen auf. Ihre Aussprache bestätigt meinen Verdacht: Die Frau ist sturzbesoffen.
Sie gibt mir das MDE-Gerät in die Hand. Als ich es einschalte, zeigt es, was es zeigen sollte. Die Tastatur ist verriegelt, ein Handgriff, der mit einem willigen Kunden etwa 30 Sekunden gedauert hätte, und das Gerät ist wieder "da". Ich frage die Chefin nach dem Ordersatz zum Bestellen. Sie fingert den verdreckten Stapel zwischen irgendwelchen Schmuddelpapieren hervor. "Versuchen sie es jetzt einmal", ermuntere ich sie. Sie nimmt den Lesestift in die Hand, ratscht einmal damit quer über das Blatt, was das MDE-Gerät empört quieken läßt. "Sechen sie, geht sich schon wiedderr nicht. Ist sich immer selbe. Chabben schon keine Nerven mehr. Chabben neuer Apparratt dabei?" Sanft nehme ich ihr den Lesestift aus der Hand. "Sehen sie einmal her..." Kurz und präzise fahre ich mit dem Stift über die Balkencodes. Klaglos liest das Gerät Artikel für Artikel ein. Die Kulleraugen fallen der Frau fast aus dem Kopf. "Wo steht ihr Modem?", frage ich sie, "ich will einmal eine Testsendung machen, damit ich weiß, daß das auch funktioniert." Sie zerrt unter einigen Ordnern das Modem hervor, es fällt auf den Boden. "Fällt sich jedden Tag runter mindestens dreimal. Aber nix kaputt. Guttes Qualität." Ich erröte ob des positiven Urteils über unser Modem. Ich starte die Sendung - alles klappt. Danach lösche ich die Testsendung. Damit sie keine Nachteile erleidet, biete ich der Kundin an, ihre heute morgen verpasste Bestellung noch einzulesen, zu senden und nachzufakturieren.
Sie hält mir einen Stapel Blätter aus dem Ordersatz hin. Ich lese ein, sende und rufe im Rechenzentrum an, damit die Kollegen die Kundin nachfakturieren können. Soviel Service muß sein.
Während meines Anrufes rappelt und knallt es hinter mir. Die Frau hat sich im Sinne des Wortes "zwischen die Stühle" - ihre Stühle gesetzt. Sie hatte wohl ungenau gezielt, jedenfalls lag sie, halb saß sie am Boden, drei Stühle um sich herum verteilt. Mühsam bemühte sie sich, wieder hoch zu kommen. Ihr Mann kommt hereingetaumelt - mindestens so stramm wie seine Frau. Gemeinsam schaffen sie das unerhörte Werk - sie kommt zwischen den verkeilten Stühlen wieder hervor.
"Sehen sie", sage ich in versöhnlichem Ton", ihr Gerät funktioniert doch. Dann kann ich meine Geräte wieder mitnehmen." "Und wenn nexte Mall widder nix funktinioeren?" wird sie wieder aggressiv. "Fragen sie ihren Mann, der kann ihnen sicher helfen..." und ziehe mich behutsam zurück. Bis zur Ladentüre gehe ich noch - unter äußerster Anspannung - normalen Schrittes. Vor der Tür erwischt mich mein Fluchtreflex dann doch. Wie ein Bekloppter wetze ich zum Auto und fege, wie von Furien gehetzt, vom Parkplatz.
Knappe drei Monate später erfuhr ich, daß die Bäckerei eine Liefersperre bekommen hatte. Ende und Aus.
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